BEGINN

Im November 2019 entstand bei LUX 66 die Idee, den Berliner Steppengarten ein Jahr lang fotografisch zu begleiten und die Ergebnisse in einer Ausstellung zu präsentieren.

An einem kalten Sonntag Ende November betritt eine kleine Gruppe von vier FotografInnen das Areal des Gartens – begleitet von Dr. Gabriele Holst, einer der HauptinitiatorInnen des Arbeitskreises Steppengarten: Aus einem Meer von Gräsern ragen die mannshohe Wilde Karde mit ihren stacheligen Samenständen, die entlaubten, nunmehr fast schwarzen Sprossachsen der Rudbeckia maxima und die pelzigen Samenstände der majestätischen Königskerze, während eine weiß bekieste Fläche mit kleinen Neupflanzungen von zarten Gräsern eine ferne Erinnerung an Ostseedüne weckt. Die leuchtend roten Früchte der Hundsrose und weiche, grüne Moospolster auf einzelnen Findlingen bilden die einzigen Farbakzente inmitten eines wogenden Meeres aus Braun- und Grautönen.

Beginnend bei den historischen Anfängen des Gartens erzählt Gabriele Holst von der Umgestaltung des Areals im Jahr 2009, dem Beginn des Engagements des Arbeitskreises 2011 und der Arbeit der GärtnerInnen in den darauf folgenden Jahren. Die Namen der verschiedenartigen Pflanzen – wohlklingend, fremdartig und verheißungsvoll – beflügeln unsere Fantasie und lassen uns eintauchen in die besondere Atmosphäre dieses Ortes. In den folgenden Wochen entstehen erste Ideen für fotografische Arbeiten. In der Beschäftigung mit dem Thema Garten und analoger Fotografie kristallisieren sich bald mehrere Gemeinsamkeiten heraus:

Gilles Clément beschreibt in „Die Weisheit des Gärtners“ den Garten als „Territorium der Ungewissheit“ (Gilles Clément: Die Weisheit des Gärtners. Berlin 2017. S. 95). Ein Stück weit gilt dies auch für die analoge Fotografie: in den einzelnen Prozessen – von der Aufnahme über die Filmentwicklung, die Herstellung und Weiterverarbeitung der Abzüge – bleibt immer ein Anteil an Unvorhersehbarem, der jedoch gerade den Reiz dieser Arbeitsweise ausmacht. Eine anfängliche Idee entzieht sich oftmals störrisch der Umsetzung, während ein ungewollter Handgriff, ob bei der Aufnahme oder im Labor, manchmal zu erstaunlichen Resultaten führt.

Dies gilt ebenso für den Garten: „Kaum angelegt, entwickelt er sich. Die gezeichneten Formen werden erkennbar. Aber die Zeit arbeitet daran, die Zeichnung wegzuwischen. Sie vereitelt kluge Spekulationen und schöne Vorwegnahmen. Sie verwandelt Gewissheiten in tägliche Fragen und die Kenntnisse in einen Haufen in seiner akademischen Logik unverbundenen Wissens.“ (Gilles Clément: Die Weisheit des Gärtners. Berlin 2017. S. 93)

UNVERFÜGBARKEIT

„Lebendigkeit, Berührung und wirkliche Erfahrung aber entstehen aus der Begegnung mit dem Unverfügbaren.“ (Hartmut Rosa: Unverfügbarkeit. Wien, Salzburg, 2019, S.8)

In seinem Buch „Unverfügbarkeit“ stellt Hartmut Rosa die These auf, dass durch das stetig zunehmende Verfügbar- und Beherrschbarmachen der modernen Welt diese zunehmend verstummt und damit eine Entfremdung von Mensch und Welt einhergeht. Gegen diese Entwicklung setzt Rosa die „Resonanz“, die immer den „Moment des Nichtverfügens“ birgt.

Durch die Verlangsamung, die einer der Wesenszüge der analogen Fotografie ist, entstand für uns die Möglichkeit einer Kommunikation. Den Glücksmoment des von Rosa beschriebenen „Zauber des Unverfügbaren“ erfuhren wir manchmal – und meist unverhofft – während unserer Arbeit an den Bildern. So entwickelte sich die Unvorhersehbarkeit zu einem zentralen Thema unserer Ausstellung. Das von Rosa beschriebene, „für Resonanzbeziehungen charakteristische Element der Unverfügbarkeit verlangt […], sich auf Probleme einzulassen, deren Eintritt unsicher ist und die darüber hinaus noch ergebnisoffen sind.“ (H. Rosa, Unverfügbarkeit, Wien, Salzburg, 2019, S.100). Dies gilt sowohl für GärtnerInnen als auch FotografInnen.

PROZESS

Durch das „Sich Einlassen“ auf den Ort ebenso wie durch Neuinterpretationen bereits bekannter Sichtweisen und dem Wechsel der Perspektiven, durch die Anwendung verschiedener fotochemischer Verfahren wie durch Kombination mit anderen künstlerischen Techniken entstanden überraschende Einblicke in eine unbekannte Welt, die weit über ein reines Abbild des Gartens hinausgehen. Eine Vielzahl der Arbeiten sind Unikate, nicht reproduzierbar: sei es durch die Unvorhersehbarkeiten des jeweiligen fotografischen bzw. fotochemischen Prozesses, sei es durch die künstlerische Weiterbearbeitung.

Rückblickend auf das Ausprobieren und Verwerfen von anfänglichen Ideen, dem Experimentieren und Entdecken, Scheitern und Staunen, blicken wir mit dieser Ausstellung nicht auf ein fertiges Ergebnis, sondern sehen unsere Arbeiten als Ausschnitt aus einem andauernden Prozess, in welchem wir uns als Fotografen und Künstler befinden,

Und „während der Garten immer wieder aufs Neue beginnt.“ (Gilles Clément: Die Weisheit des Gärtners. Berlin 2017. S. 67), laden wir Sie ein, diesen besonderen Garten und seinen ständigen Wandel sowohl in natura als auch in unseren Bildern zu entdecken.

Ausstellung: UNVERFÜGBAR vom 08.10.-31-10. 2020 im Rahmen des European Month of Photography 2020 in Berlin

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